Essay: Einführung

für den Katalog „R. Hanke – mehrschichtig“, 1980 von Gisela Bisterfeld

Dies ist meinem Auge das Fürchterliche, daß ich den Menschen zertrümmert finde und zerstreuet wie über ein Schlacht- und Schlächterfeld hin.

Und flüchtet mein Auge vom Jetzt zum Ehemals; es findet immer das Gleiche: Bruchstücke und Gliedmaßen und grause Zufälle – aber keine Menschen!

(Nietzsche – Also sprach Zarathustra)

 Die Zeichnungen Reinhard Hankes konfrontieren uns mit einer formal-ästhetisch schönen Welt, deren Inhalte jedoch desto schrecklicher auf uns eindringen: Menschen sind als Opfer oder Fratzen dargestellt, Maschinen wirken bedrohlich, Natur erscheint vornehmlich als erstarrtes Gestein. Diese Bilder sind „Phantastik in härtester Materie“ wie Kandinski die realistische Kunst einmal nannte.

 Reinhard Hanke entlehnt seine Begriffe der Wirklichkeit und seine Formen sind im einzelnen identifizierbar, doch fügt er beides – Begriff und Form – zu einer neuen Aussage zusammen, die Überwirkliches ausdrückt und den Dingen auf den Grund geht.Die Bleistiftzeichnung ist das ihm gemäße Ausdrucksmittel: er kann damit erzählen und charakterisieren – dem Schwarz-Weiß der Zeichnung wohnt aber gleichzeitig eine Tendenz zur Abstraktion inne; sie drückt symbolisch den Widerstreit zwischen Licht und Finsternis aus, dazwischen liegt das Dämmerlicht des Unwägbaren und der Schatten. Die gegenständliche Welt wirkt entmaterialisiert, das Strichgefüge reduziert die Objekte auf ihr Wesentliches. Im Gegensatz zur farbigen Darstellung ist der Schwarz-Weiß-Kontrast von Graphik un-sinnlicher, er appelliert mehr an den Verstand und ist aus ihm konzipiert.

 Reinhard Hankes Bilder sind sichtbare Zeichen von innerer Reflexion und Symbole für Unaussprechliches – sie stellen das Absurde und das Groteske dar. Sie zeigen den klaffenden Kontrast zwischen Form und Stoff; die Explosivkraft des Paradoxen, lächerlich und grauenerregend zugleich. Hierdurch steht R. Hanke in einer Tradition, die seit der Romantik die abendländische Kunstauffassung wesentlich bestimmt hat. So ist es kein Zufall, daß seine Zeichnungen immer wieder Assoziationen zu Literatur und Philosophie erlauben.

Der Mensch ist in R. Hankes Darstellungen ein zum Leiden verurteiltes Wesen oder ein Ungeheuer, das sich immer wieder die Maske vom Gesicht reißt, bis es in all seiner Schauerlichkeit sichtbar wird.

 Das Groteske wird hier nicht nur am Gegenstand deutlich, es zeigt sich auch in der Form der Darstellung: alles ist doppeldeutig, mehrschichtig: die räumlichen und zeitlichen Bezüge der Dinge untereinander sind oft nicht klar zu definieren; Schwebezustände irritieren den Betrachter; das Bild im Bild ist ein Motiv, das immer wiederkehrt. Diese Techniken erinnern an die Erzählweise der Romantik, wo die Verschleierung der Identität, das Spiel im Spiel zur essentiellen Aussage gehört. Sie weist uns auf die Widersprüche zwischen Sein und Schein hin, zeigt eine neue Dimension hinter dem realen Faßbaren auf.

Reinhard Hanke irritiert immer wieder die bewußte Wahrnehmung durch ein subtiles Spiel mit Vorder- und Hintergründen, er läßt uns rätseln, was Schein und Wirklichkeit ist. Diese Bilder zielen darauf ab, uns die Relativität unserer Erkenntnis vor Augen zu führen; unsere emotionale und intellektuelle Sicherheit zu erschüttern.

Trotz inhaltlicher Ähnlichkeiten haben Hankes Zeichnungen wenig mit dem Surrealismus gemein. Sie entstehen wohl selten aus dem von André Breton geforderten „psychischen Mechanismus“ und dem Unbewußten, sie scheinen im wesentlichen rationale Konstruktionen zu sein. Seine Serien und Überarbeitungen zeugen von philosophischer Reflexion, oft sogar von nahezu quälerischer Intellektualität. Sie sind von literarischen Vorbildern inspiriert; von E.T.A.Hoffmann, E.A. Poe und Franz Kafka, von Dostojekwski und den großen Realisten. Diese Neigung, Literatur zu zitieren, hat Hanke mit anderen großen Zeichnern, wie zum Beispiel Alfred Kubin, gemeinsam.

 Und doch sind diese Zeichnungen nicht literarische Klischees, die an die Stelle eigener visueller Erfindung treten – sie sind „literarisch“ in dem Sinne, daß zur sinnlichen Erfahrung die spirituelle hinzutritt, um in der Allegorie, im Symbol, das Unbegreifliche sichtbar und faßbar zu machen.

Reinhard Hanke zeigt uns die Welt als „Wille und Vorstellung“, eine Welt der Einsamkeit, des Elends und des Leidens. Es ist eine pessimistische Weltsicht, die hier unser Denken und Fühlen beeindruckt, es ist die Welt eines Schopenhauer und Nietzsche, die Mitleid fordert und nur im künstlerischen Schaffensakt überwunden werden kann.

Und das ist all mein Dichten Und Trachten, daß ich in eine dichte und zusammentrage, was Bruchstücke ist und Rätsel und grauser Zufall.

Und wie ertrüge ich es Mensch zu sein, wenn der Mensch nicht auch Dichter und Rätselrater und der Erlöser des Zufalls wäre!

(Nietzsche – Also sprach Zarathustra)

Gisela Bisterfeld, 1980