Beitrag zum Katalog „zeichen-HAFT“, 2004 von r. hanke
Kinderkanal, Werbung, Fernsehnachrichten. An jeder Ecke Bilder: Seriösität ausstrahlend, schrill Aufmerksamkeit heischend – Altbekanntes informiert, überraschende Kombinationen zerren an der Aufmerksamkeit. Das Comiczeitalter. Die Packung, die auch dem hastenden Kunden aus dem Regal noch ihre Nachricht entgegen schreit. Handeln einfordert. Das Logo verbindet sich genauso selbstverständlich mit Sinn wie das Verkehrszeichen, während eines Augenaufschlages, im Vorbeifahren, aus dem Augenwinkel. Lediglich beliebige Form-Farb-Spielereien? Gezielt gesetzt, bis an die Grenze reduziert, manipuliert um zu manipulieren! Die Sonne eckig, das ist ein Hit.
Ist Ihnen bewusst, dass ein jeder als Genie gelten müsste, nur weil er überhaupt eine Sonne erkennt – wo sie doch nur ein Kreis ist, in allen möglichen Farben? Das ist doch nun wirklich zu selbstverständlich! Nur weil Erkennen die Voraussetzung ist für unser Überleben? Das Bein des Tausendfüßlers? Nicht so ganz! Schließlich ist unsere Wahr-Nehmung die Wurzel für unser Weltbild, für unser Denken überhaupt, für unser Handeln. Es sind schon Kriege ausgebrochen, nur weil etwas falsch wahr-genommen wurde, Bezüge vertauscht, der Standpunkt verschoben, eigenen Interessen folgend. Und je reduzierter das Gesehene daherkommt, desto leichter schält sich Unvorhergesehenes aus der Zielgerichtetheit, in Rationalität macht sich Unsinn breit, Eindeutigkeit verliert sich in Auffassungen, Stringenz geht gewundene Wege, Nuancen lassen Klarheit verdampfen. Die Zeichen entpuppen sich bei genauerem Hinsehen als Schemen, verweisen wie Chimären auf Heterogenes.
Die Erkenntnis, die Wittgenstein am 17.10.14 in sein Tagebuch notierte, ist inzwischen Allgemeinplatz geworden: „Ja, man könnte die Welt vollständig durch ganz allgemeine Sätze beschreiben, also ganz ohne irgendeinen Namen oder sonst ein bezeichnendes Zeichen zu verwenden. Und um auf die gewöhnliche Sprache zu kommen, brauche man Namen etc. nur dadurch einzuführen, indem man nach einem „($x)“ sagte „und dieses x ist A“ usw. Man kann also ein Bild der Welt entwerfen, ohne zu sagen, was was darstellt. Denn Bild und Darstellungsweise sind ganz außerhalb des Dargestellten!“ Prinzipiell kann Allem jede Bedeutung beigemessen werden. Die Brücke zwischen der Welt der Dinge um uns und dem, wie wir sie erkennen und nutzen, unsere Wahrnehmung und unser Bewusstsein, ist offensichtlich keine statische Masse , die Gesehenem im Verhältnis eins zu eins Be-Deutung beimisst. In einer virtuellen Welt wird alles möglich. Eine eckige Sonne ist gleich-gültig.
Ich bin bereits im Sehen selbst aktiv , grenze ab, isoliere, vergleiche, ordne zu. Nicht nur visuell. Indem ich (wieder-)erkenne, habe ich das Gesehene einem in mir bereits vorhandenem Gesamtzusammenhang zugeordnet. Wenn ich sage: „Dieses ist ein Kreis“, so ist es nur ein Kreis, wenn ich weiß, dass diese Form in verschiedenen Zusammenhängen so genannt wird – sofern ich es gelernt habe. Es bleibt dabei frei, welche Gedanken ich verbinde, welche Netze ich auslege, ob ich Ungereimtheiten fange. Schließlich sind da die eigenen Erfahrungen, die mich steuern, vielleicht völlig neben der Spur, sicher einmalig. Schlechte Erinnerungen konterkarieren gut Gemeintes. Vielleicht stimmt nur die Beleuchtung nicht. Oder ich bin schlicht schlecht drauf. Indem ich bezeichne, bemühe ich mein Leben. Jedes Mal neu, ohne darüber nachzudenken. Manipuliert manipulierend. Das Gesehene wird von Jedem neuen Deutungen unterworfen, nicht nur Varianten. Der Spiegel einer „richtigen“ Weltsicht ist zwangsläufig zerbrochen in das Kaleidoskop individueller Ansichten unserer selbst, jede für sich gleich gültig.
Es ist dieser Bereich, in dem rational kalkulierte Suggestion und emotionale Um-Deutung, scheinhafte Objektivität und subjektives Gaukelspiel sich gegenseitig Fallen stellen können, der mich fasziniert. Dabei gehe ich von einer Bildwelt aus, in der ich den Prozess der Reduktion und Manipulation einer vorgegebenen Zeichenwelt möglichst bis ans Ende treibe, um im Sinne Wittgensteins jeden „Namen“ leichter durch ein „($x)“ ersetzen zu können. Es ist der Grenzbereich, in dem Form und Farbe eine neue Qualität bekommen, Bedeutung, der Bereich, der noch frei ist für neue Zuweisungen, weil er erst beginnt unsere Wahr-Nehmung zu reizen, der Bereich, in dem scheinbar objektiv vorgegebene Bedeutung und subjektive Deutung noch nicht in feste Relationen gepresst sind, der Bereich, in dem auch ein Dreieck eine Sonne sein kann – oder etwas anderes.
Im Zentrum meiner Arbeit steht damit eine Welt im Kopf, in Häppchen abgeglichen mit einer Welt um uns, eingefangen durch genial unvollkommene Werkzeuge, gerade gut genug, um sich zurechtzufinden. Auf schwankendem Boden muss scheinbar Widersinniges in einem riesigen Mosaik zum Einklang gebracht werden. Ein zusammengeflicktes Bild von einer Welt, eine Koexistenz, die jedes Mal neu zusammengesetzt wird, und die nur denkbar ist in Gegensätzen. Glücklicherweise sind sie immer Kehrseiten einer Medaille. Ich kann nicht das eine sehen ohne das andere zu denken: die Masse nicht ohne das Individuum, Rationalität ergänzt sich durch Emotionalität, wenn mir etwas vordergründig erscheint, muss es Hintergründiges geben. Erst die Einheit der Verschiedenartigkeiten bildet das Ganze, das in seiner Vielschichtigkeit jedoch immer nur partiell erkennbar ist: Gegen die schablonierte Schrift stellt sich die skripturale Geste; immer der gleiche Computerdruck wird in einer Serie von Arbeiten überlagert von individuellen Zeichen; Bild und Abbild korrespondieren mit der Ritzung im Acrylglas und den Reflexen auf der Wand, werden erst evoziert durch das Licht, sind abhängig vom Standpunkt des Betrachters, verändern sich mit der Beleuchtung.
Indem ich das Gesehene benenne, öffnet es sich dem intellektuellen Zugriff. Vage Erfahrung wird präsent. Erscheinung wird direkt ablesbar. Etwas erscheint nicht nur als Vorder- und Hintergrund, sondern ist gleichzeitig auch vorder- und hintergründig gemeint. Eine Form sieht nicht nur ausradiert oder beschädigt, klar umrissen oder frei aus – sie ist auch so zu verstehen. Gleiches gilt für die verwendeten Medien: der Computerdruck ist nicht nur zeitgemäßes Medium, er repräsentiert auch meine Zeit – indem markante Eigenschaften ablesbar werden, inhaltliche und formale, subjektive und soziale, Eigenschaften der Beschaffenheit und des Ausdrucks, der Denkart und der Mentalität. Indem ich genau hinsehe und kläre, was da ist und wie es gemacht wurde, lege ich die Basis für Verständnis, das ich aus mir heraus dazugebe, aus einem eigenen Reichtum, gemeinschaftliches Gut nur in Teilen. Indem ich mir des Prozesses der Wahr-Nehmung bewusst werde, aktiv sehe, mir meiner selbst gewahr werde, beginne ich, die mich jeden Tag überrollenden Informationen auf eine neue Art zu nutzen.
Die Zahl wurde zum Schlüssel meiner Zeit und meiner Arbeit. Nicht nur, dass sie für rationales Forschen und Ökonomie schlechthin steht, den Lebensnerv einer gesamten Epoche repräsentiert. Sie verwaltet Information schlechthin. In ihr kristallisiert sich der Traum des Menschen von Allmacht, von der Beherrschung der Naturgesetze, der Vorherbestimmung von Zukunft. Allerdings als Selbsttäuschung, Trugbild. Mit Demut knicken wir ein vor den Ergebnissen der Naturwissenschaften, allen voran der Mathematik. Keine Kritik wird gewagt, es sei denn, sie kommt aus den eigenen Reihen. Zu komplex und unverständlich sind immerhin die Erkenntnisse. Und wer möchte schon gern als Unwissender dastehen. Unsere Erfahrungen mit den Zahlen waren in der Schulzeit nicht gerade die besten. So sehen wir eingeklemmt und empfangen dankbar die Segnungen der Technik, fügen uns widerstandslos, wenn wir überall zu Nummern degenerieren. Doch kaum Einer durchschaut noch die Zwänge des Alltags und das inzwischen von innen hohl gewordene gültige Weltbild, das keine Hilfe bietet bei der Bewältigung all des alltäglichen Frustes und der Unterlegenheitsgefühle. Die Flucht in ein irrationales Verständnis der Vorbestimmung fällt leichter: Tarot, Kabbala, Zahlenmystik. Sie versprechen, in der Zahl, wärmende Quellen: Phantasie, Glaube, Sinngebung. Innere Erfüllung. Und so befreit die Zahl selbst von dem Korsett, das sie schuf. Auch nur eine Fata Morgana. Indem ich eines sehe, tritt mir beides entgegen: Die Höhenflüge und die Ohnmacht menschlichen Denkens und Fühlens.
Auch wenn uns der eine oder andere Erkenntnisansatz allzu bedeutungsschwer erscheinen mag, so haben doch auch diese Gehalte der Zahl unsere Einstellungen zur Welt penetriert. Das fängt an bei Sprüchen wie: „Aller guten Dinge sind ‘3’.“ und hört nicht unbedingt bei Hotels ohne Zimmernummer 13 auf. Geboren aus dem Zwang, alles messen und beurteilen zu müssen, bestimmt sie mit dem Hang des Menschen, Alles erklären zu wollen und spekulierend aus Analogieschlüssen auch Unerklärbares abzuleiten, interkulturell im schönen Gleichklang unser Leben, Ratio und Gefühl, offenkundig und unterschwellig. Dabei gehen Zahl, Metapher und Allegorie, Inhalt und Erscheinung Hand in Hand, denn gerade aus dem sehr häufigen Bildcharakter zieht die Bedeutung der Zahl ihre größte Kraft. Viel-Gestaltet tritt sie uns entgegen, beherrscht uns, bietet sich als Hilfe an: der Strich auf dem Bierdeckel und der Barcode; schwungvoll verbreitet sie Optimismus von der Plakatwand, versteckt dokumentiert sie Resignation in der Zelle; Objektivität einfordernd, voll Angst gekritzelt – aus und über sich hinaus mitteilend.
Und damit deutet sich die eigentliche Stärke des Bildes an. Indem es uns in all seiner und unserer Vielschichtigkeit entgegentritt, lässt sich die „Bedeutung“ eines visuellen Eindrucks begrifflich weder imitieren, noch konstruieren, noch festlegen, und das visuelle Geschehen eines Bildes entsprechend auf offenkundige Bedeutungen nicht reduzieren. Vielmehr bietet es Raum, das Gesehene mit eigenem Leben zu erfüllen. Hinter dem offenkundig Gegebenen erscheint mir eine weitere Ebene, die mein Leben und meine Welt reflektiert, meinem Hang nachgebend vom Erklärbaren zum Unerklärlichen ständig fortzuschreiten, zu spekulieren, und im Spekulieren mich selbst zu erfahren in meinen Möglichkeiten und Begrenzungen. Eine Tiefe zu suchen, die nur in mir zu finden ist. Dem Sehen zugrunde liegende Gesetze ermöglichen es, neue Bezüge aufzuzeigen, Sinneinheiten zu bilden, sie plausibel und fassbar werden zu lassen, bekannte Beziehungsstrukturen in Frage zu stellen. Das Bild zu verändern, zu erweitern, das Bild als Spiegel gleichzeitig für beides und von beidem: Welt und Bewusstsein, Reales und Irreales, Erfahrbares und Unerklärliches – statisch vorgegeben und gleichzeitig bei jeder Begegnung sich verändernd.
r. hanke, 2004