Beitrag zum Katalog „R. Hanke – mehrschichtig“, 1980 von Friedhelm Röttger
In dieser kurzen Hinführung möchte ich mich auf einige Grundmuster beschränken, die mir typisch zu sein scheinen für Reinhard Hankes Möglichkeit künstlerischer Auseinandersetzung.
Allein Wirklichkeit, wie wir sie innerhalb ihres uns gewohnten Bezugssystems kennen, logisch konstelliert und eingebettet in kausale Zusammenhänge, entpuppt sich bei näherem Hinsehen als Tapetentür, als Schein und Falle. Die Mittel der Realität, wenngleich nur geringfügig ihres ursprünglichen Sinnes entfremdet, dienen somit offensichtlich der Darstellung einer Irrealität, deren Grenzlinie eindeutig nicht zu ziehen ist. Man könnte einen solchen Vorgang mit dem Brechtschen Begriff der Verfremdung belegen, bezeichnete er nicht die Störung eines Identifizierungsprozess durch einen rational motivierten dramaturgischen Einschub. Eher wäre Schopenhauers Wille und Vorstellung erklärend heranzuziehen, eine Philosophie, nach der es dem Menschen nicht gegeben ist, Wirklichkeit oder Wahrheit der Welt oder des Dings an sich eben als so und nicht anders seiend wahrzunehmen; das vielmehr unsere Sinne, eben unsere Vorstellung, in ihrer Eigenmächtigkeit uns am eigenlichen Akt des Erkennens hinderten. Welt, meine dieser, sei im Grunde anders als sie uns scheine.
Dies mehr am Rande zu den hier auf diesen Zeichnungen in nahtlosen Übergängen aufscheinenden verschiedenen Realitätsebenen, die übrigens ihre Geschichte haben, die nicht erst mit Hieronymus Bosch beginnt, bei ihm aber sogleich in einer der tiefsten psychischen Schichten absurd und grotesk zugleich Gestalt wird. Eher denke ich an den lombardischen Barockmaler Arcimboldo, dessen Gemüse- oder Früchtestilleben schlagartig einen Porträtkopf enthüllen, dessen Landschaften plötzlich in eine sitzende Gestalt umschlagen.
Mit Metamorphose umschreiben wir einen solchen Umschlag des Sehvorgange, der, wenn spielerisch intendiert, uns belustigt, der aber verunsichern, ja beängstigen kann, weil vertraute Gegenstände in regelwidriger Zusammenfügung zunächst un-heimlich wirken. Wir kennen das bedrohliche Gefühl, das uns beim Betrachten der Kerker-Radierungen von Piranesi beschleicht. Bedrohlich nicht, weil sie riesige unterirdische Verließe, Hallen oder Gewölbe darstellten, deren Größenordnung Menschenmaß übersteigt.Bedrohlichkeit nistet sich ein, weil Sinnzusammenhänge gestört, Logik verunsichert, Gewohnheiten zerstört werden: durch einen Rundbogen, der, auf einem falschen Gesims aufliegt; eine Treppe, die im Nichts endet; eine Galerie ohne Zugang, obwohl wir darauf Gestalten ausmachen.
Dahinter mag stehen: die Lust eines Zeitalters am Ungebührlichen, Widervernünftigen und Phantastischen; das psychische Ungemach des Künstlers, der sich solcherart von der Übermacht inwendiger Bilder befreit; die Entdeckung einer autonom waltenden psychischen Welt in uns, auf welche der Surrealismus mit seinen gemalten Projektionen antwortete: de Chirico, Max Ernst, Magritte, Dali, aber auch Oelze und Radziwill.
Die Zeichnungen Reinhard Hankes gehören in diesen Zusammenhang, und doch wiederum nicht, obgleich die Begriffe Kombinatorik und Metamorphose als für den Surrealismus typische angewandt werden können.
Vielleicht kann ich Ihnen an einen literarischen Vergleich deutlich machen, was ich meine; Ich denke an Kafka und seine überaus klare, mitunter amtsstubenhaft überdeutliche Sprache, mithilfe derer er ins Zentrum seiner real irrealen Erzählungen, Gleichnisse und Parabeln führt, die ihrerseits eine menschlich-existentielle Situation scharf, geradezu schmerzhaft scharf erhellen.
Etwa ähnlich verfährt Reinhard Hanke, dem es nicht um Irritierung nur der Irritation wegen geht. Dahinter steht – verzeihen Sie das mißbrauchte Wort – Engagement, kraft künstlerischer Mittel, eingesetzt auf dem >Grenzbereich zwischen Wirklichkeit und Phantastik, den Betrachter mit seinem Anliegen zu konfrontieren, einem Anliegen, das jedoch nicht allein des Künstlers Problem ist: nämlich abgedroschene, leer gewordene Begriffe in ein Bild zu übersetzen, um vom Bild aus die Hohlheit eben dieses Begriffes ermeßbar werden zu lassen. Thema ist zum Beispiel der ausrangierte, der, wörtlich „abgelegte“ Mensch, das abgelegte Wort, der sich selbst entfremdete, der vermessene Mensch. Ein solches Anliegen löst sich nicht einfach illustrieren, so wie man eben eine Geschichte illustriert. Es verlangt nach einem eigenen Darstellungsraum eben jenem des doppelten Bodens. Jener aber ist, wie bei Kafka, präzise zu bezeichnen, minuziös zu umreißen. Exakte Phantasie, eine Forderung Goethes, und Hokusai, der japanische Zeichner und Holzschneider der Phantome, der „Erfinder so greulicher und entsetzlicher Gespenster“ schrieb: „Es ist nicht schwierig, imaginäre Formen, monströse Gestalten und phantastische Erscheinungen zu zeichnen; schwierig ist es aufzudecken, was die Wesen und Dinge der sichtbaren Welt belegt.“
Friedhelm Röttger
anläßlich einer Ansprache in der
Hans-Thoma-Gesllschaft, Reutlingen 1979